Die Suche nach dem richtigen Wort führt tatsächlich auf die Spur zum Problem. Qualitätsentwicklung? Das könnte dazu verleiten, die Sache als einmaligen Prozess zu betrachten, was sie nicht ist. Deswegen spricht das Schulgesetz NRW stets im Doppelpack von „Qualitätsentwicklung und -sicherung“, und als konkrete Handhabe ist die „Qualitätsanalyse“ in Gebrauch. Wenn man sich die diesbezüglichen Bemühungen im staatlichen Schulsystem anschaut, wird klar, dass die Frage der Schulautonomie dabei deutlich „anklopft“. Wir sind dieser Frage, die keine Waldorfspezialität ist, sondern im „Zeitgeist“ liegt, im Abschnitt „Zwischen Autonomie und Schulgesetz: unser ‘Auftrag’“ bereits nachgegangen. Rekapitulieren wir:
- Waldorfschulen werden ~ vom Schulgesetz ~ als Bereicherung gesehen, insoweit sie anders, „aber nicht schlechter“ sind.
- Dieses Besondere von Waldorfschulen hängt zentral damit zusammen, dass von den Lehrkräften „jeder selbst voll verantwortlich“ ist (Schulautonomie, „Freies Geistesleben“).
- Wenn man sich darauf verständigt, als die besondere Unterrichts- und pädagogische Qualität von Waldorfschulen genau dies zu meinen (so schwierig die Fokussierung ist), wenn man also innere, nicht äußere Kriterien anlegt, dann sind restaurative Tendenzen ~ zurück zum alten, hierarchischen Weg ~ vermutlich nicht förderlich, so „verständlich“ sie sein mögen und so soft und verbrämt sie auch durchgeführt werden.
Wir müssen uns also klar sein darüber, was an Waldorfpädagogik auch von der „Organisation“ her so anders ist, dass man Instrumente von außen möglicherweise nicht sinnvoll hereinkopieren kann.

Das Problem, um das es bei
Qualität geht, ist das altbekannte des Barons von Münchhausen, der in einen Sumpf geraten ist. Das gibt es, wie überall, auch in der Schule: der Sumpf der Betriebsblindheit, des Schlendrians, des suboptimalen Arbeitens überhaupt. Einerseits ist das fachliche und pädagogisch-didaktische Wissen und Können der Lehrkräfte die Basis für guten Unterricht und gute Förderung. Andererseits kann dieses Wissen und Können nicht ein für alle mal in der Ausbildung angeeignet werden, sondern muss sich stets wieder, weil man mit Menschen arbeitet, authentisch machen, und muss sich flexibel und entwicklungsfähig halten. Hierfür spielen Schwung, Motivation, ja die verfügbaren Kraftressourcen die entscheidende Rolle. Anregungen können von außen gegeben werden, aber die Arbeit muss „im System“ stattfinden, daher Münchhausen.
Der bunte, musisch und praktisch durchsetzte Lehrplan der Waldorfschule (Lernen mit Hand, Herz und Kopf) mag viele erfrischende Elemente haben. Aber ein Plan muss von innen mit Leben erfüllt werden. Betrachten wir daher die andere Seite: suchen wir Elemente, wo wir uns in der Schulpraxis bewusst darauf einlassen, dass unsere Flexibilität herausgefordert wird und unsere (gemeinsame) Reflexion angeregt wird, damit wir nicht der Betriebsblindheit und dem Schlendrian erliegen.
- Zunächst hat Rudolf Steiner beim Start der Waldorfschule sogleich vom traditionellen Bücher-gestützten Unterricht Abstand genommen. Was sollen die Kinder denn denken, wenn der Lehrer mit einem Buch vor der Klasse steht? Weiß er nicht wirklich, wovon er da spricht?
- Demzufolge geht es um eine intensive Vorbereitung. Und das, wo man doch als Klassenlehrer nach dem Konzept der Waldorfpädagogik die ganze Reihe der „Hauptunterrichts“-Fächer unterrichten soll!
- Das hält die Vorbereitung und den Unterricht lebendig, denn der Lehrer muss sich auf das konzentrieren, was er aus eigener Begeisterung am nächsten Tag den Kindern weitergeben will. Mag es exemplarisch sein. „Man würde aber ganz gewiss am allerbesten unterrichtet haben, wenn man an jedem Morgen mit Beben und Zagen in die Klasse gegangen ist und sich gar nicht sehr auf sich selber verlassen hat …“
Und dennoch ist stets die Gefahr, zu sehr im eigenen Saft zu schmoren. Aber dem steht einiges entgegen, denn man lebt als LehrerIn ja nicht abgeschottet hinter seiner eigenen Klassentür. Man lebt das Schulganze mit, und da bewegt sich immer etwas:
- Die Personalnot ist wie in der allgemeinen Schule auch im Waldorfbereich groß. Es sind dann ~ dies ist jahrzehntelange Erfahrung ~ eher selten fertig ausgebildete KollegInnen, die dazukommen, sei es mit Staatsexamen oder mit abgeschlossener Waldorfausbildung. Es sind meist SeiteneinsteigerInnen, und wir sind froh, dass Gesetzgebung und Schulaufsicht uns diese Bereicherung ermöglichen. Da kommt frischer Wind und Kompetenz aus dem wirklichen Leben (u.a. Handwerksberufe) zu uns.
- Diese neuen KollegInnen machen dann, wenn sie schon bei uns sind, berufsbegleitende meist waldorf-nahe Ausbildungen und werden überregional von erfahrenden WaldorfpädagogInnen begleitet: frischer Wind auch für uns!
- Aber selbstverständlich stehen diese neuen KollegInnen im Schulalltag nicht allein, sondern werden mentoriert. Frischer Wind auch für die MentorInnen!

Letztendlich steht aber
kein Lehrer allein da. Und dies ist eigentlich das fundamentalste Merkmal der Waldorfpädagogik, so wie wir sie aus erneuertem Impuls pflegen wollen. Denn im Zentrum steht
die Konferenz.
- Sie findet wöchentlich statt und hat ihren klaren Schwerpunkt in der Pädagogik. Meist im Plenum, teils aber auch in kleineren Gruppen wendet man sich den Kindern, den Klassen, den Unterrichten und dem sonstigen Schulleben zu. Auch Verwaltungsthemen werden bearbeitet, aber die Verwaltung dient natürlich der Pädagogik und nimmt im Zuge der Selbstverwaltung nur soviel Raum ein, wie ihr zusteht.
- Kinderbesprechungen sind ein Herzstück der Konferenz: ein einzelnes Kind wird in die gemeinsame, ganzheitlich-liebevolle Betrachtung genommen. Der Austausch führt oft zu neuen Sichtweisen, Ideen oder konkreten Maßnahmen, und oft hilft er spürbar dem Kind, ohne dass man es an Konkretem festmachen kann. Es kommen nicht nur „Problemkinder“ an die Reihe!
- Wochen- oder Monatsrückblicke auf die einzelnen Klassen, Gruppen, die Verwaltung und die Hausmeisterei gehören zum Standard: unser Anspruch ist, dass jeder Kollege wenigstens ein Stück weit teilnimmt am Geschehen hinter den anderen Türen!
- Unterrichts-Themen: Die Konferenz ist eine permanente Fortbildung! Man braucht nicht über die Berge zu fahren, wir haben soviel Kompetenz im Hause!
- Klassenbesprechungen: Die Schulklassen oder Gruppen sind eigene Wesen, die auch zu betrachteten sind ~ nicht nur, wenn es brennt, weil ein Fachlehrer nicht so gut zurecht kommt wie die KlassenlehrerIn!
- Grundlagenarbeit: Gemeinsam Texte lesen und besprechen, z.B. die von unausgeschöpften Anregungen strotzenden Vorträge von Rudolf Steiner: eine Quelle von Qualität und manchmal eine beglückende Erfahrung.
- Im künstlerischen Teil können wir uns auf andere Weise erfrischen und als Gemeinschaft erfahren ~ sei es Eurythmie, Singen, Malen, Tanzen …
- Gegenseitige Hospitationen werden, wo sie sich nicht durch Doppelbesetzung oder Mentorierung von selbst ergeben, gezielt zur Qualitätsarbeit ermöglicht und ausgewertet. Auch eine erfahrene Lehrkraft kann aus dem Blick eines Andern viel lernen.
- Die Konferenz ist nicht nur eine wöchentliche Veranstaltung (wo man „hin muss“), sondern ein lebendiges Gremium, ein „Wesen“. Wer nicht immer dabei sein kann, fühlt sich trotzdem dazugehörig. Hilfreich ist, dass unsere Schule ja auch ein „Dritter Ort“ sein soll, wo nachmittags „etwas los ist“. Da dürfte es nicht schwierig sein, für Alleinerziehende eine Kinderbetreuung zu integrieren.
Die Konferenz als zentrales Organ unserer Selbstverwaltung wird maßgeblich von den Lehrkräften getragen. Aber sie ist offen: IntegrationshelferInnen, FSJlerInnen, LangzeitpraktikantInnen, Eltern ~ je nach Thematik kommen sie dazu. Die HelferInnen sehen wir als Teil unseres Teams und bieten auch für sie entsprechende regelmäßige praxisbegleitende Kurse. Die Klassenteambesprechungen ermöglichen gemeinsame Reflexion und wechselseitiges Lernen.
Auch die Elternabende, die ja bekanntermaßen an Waldorfschulen häufiger gepflegt werden, gehören zur Qualitätsarbeit. Nur wenn die Erwachsenen sich begegnen, können sie den schützenden Kreis um die Kinder bilden.

Und natürlich gibt es auch die individuellen
Förderpläne und die
Zeugnisse. Beide sollen aus unserer Sicht nicht für die Schublade sein! Die Förderpläne ermöglichen die vertiefte Reflexion zwischen den KollegInnen über die Kinder, und die Besprechungen, auf deren Grundlage sie entstehen, sind eigentlich lebendiger und fruchtbarer als das Stück Papier selbst. Die Zeugnisse sollen, auch mit ihrem Zeugnisspruch für die Kinder, ein Stück ausgedrückte Wertschätzung zum sommerlichen Schuljahreswechsel sein.
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Und jetzt die entscheidende Frage: Wer hat denn Energie für das Ganze? Neben dem Unterricht noch wöchentlich Konferenz und Extraveranstaltungen? Wird das wenigstens bezahlt?
Tatsächlich aber hat es KollegInnen-Äußerungen gegeben wie „Eigentlich müsste ich noch Geld bezahlen, dass ich hier arbeiten darf.“ Das klingt natürlich unglaublich und übertrieben, und war auch so gemeint. Dennoch weist es auf einen realen Punkt hin: Offenbar kann man in seinem Kopf (oder anderswo) einen gewissen Schalter umlegen. Und als Schulinitiative kann man die entsprechende bewusste Entscheidung treffen. Jedenfalls kennen wir, zumindest auch, die vielfach wiederholte Erfahrung: du schleppst dich mühsam in eine Konferenz ~ und kommst erfüllt zurück. Auf diese Kraft-Ökonomie kann man sehr wohl bauen und aufbauen. Man muss sie allerdings öfters wieder entdecken, weil sie außerhalb in der Berufswelt nicht gerade gängig ist.
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Gibt es eine Quintessenz?
An vielen Stellen merken wir, dass das Anregende, Verbessernde, ja emotional Beflügelnde aus einem gemeinsamen Bemühen entsteht, und nicht im stillen Kämmerlein. Es wird oft überraschend neu geboren, nicht durch Rückgriff auf ein Handbuch oder ein Schema.
Tatsächlich dürfte dies die wichtigste Quelle von Waldorf-Qualität sein. Rudolf Steiner hat es der Bewegung gleich im Anfang mit auf den Weg gegeben; er drückte sich im Lehrer-Kreis zum feierlich-intimen Beginn vor dem ersten Schultag (Stuttgart 1919) etwa so aus: „Hinter jedem von uns steht sein Engel, ihm die Hände sanft aufs Haupt legend; dieser Engel gibt Euch die Kraft, die Ihr braucht“. Das ist also das Individuelle („Jeder muss voll verantwortlich sein.“). Dann aber kommt die Gemeinschaft: „Über Euren Häuptern schwebt der Reigen der Erzengel. Sie tragen von einem zum andern, was einer dem andern zu geben hat. Sie verbinden Eure Seelen. Dadurch wird Euch der Mut, dessen Ihr bedürft. Aus dem Mut bilden die Erzengel eine Schale.“ Und erst in diese gemeinschaftliche „Schale des Mutes“ kann „von dem wirkenden Zeitgeist ein Tropfen des Zeitenlichtes“ fallen.
Also nur wenn Individuum und Gemeinschaft Hand in Hand zur Geltung kommen, kann Waldorfschule „zeitgemäß“ sein und ihren Auftrag erfüllen.