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„Schulkonzept in Häppchen“

Sonntag, 2. November 2025

Waldorfpädagogik leben lassen

Wer seine ersten Berührungen mit Waldorfpädagogik hat, sei es als Eltern, als BewerberIn oder schon eingestellte PädagogIn, als SchulaufsichtsbeamtIn, als JournalistIn, kommt ums Fremdeln nicht herum. Die schwer fassbare Waldorf-Sache hat so viele Aspekte, die man nicht einordnen kann … Vielleicht spielt dabei eine der Vorurteilsbrillen mit, die großzügig verteilt werden. Aber selbst ohne diese: Irgendwann stößt man auf den anthroposophischen Hintergrund … Ist es nicht besser, den einfach wegzulassen? Kann man Waldorfpädagogik nicht in eine handhabbare Form bringen?



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Wäre das nicht das Normalste der Welt? Nach dem Motto „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ wählen wir jeden Tag aus, was uns nützt und was nicht. Und gerade bei komplexen Sachen, die aus Theorie und Praxis bestehen, kann man meist gut und gerne das Theoretische weglassen. Wir nehmen Medikamente oder lassen uns Akupunktur geben, und brauchen dabei weder die chemische Zusammensetzung der Tabletten noch die Hintergründe der Nadeltherapie zu kennen. Hauptsache, es hilft.

Soweit, so gut. So lässt sich sicherlich auch Waldorfpädagogik in Anspruch nehmen, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Das Problem: wer näher dran will ~ und das wünschen wir uns durchaus von allen Beteiligten ~, wird dennoch ins Fremdeln kommen. Da ist etwas großes Unbekanntes, die Anthroposophie. Und die lässt sich nicht so in die Schublade schieben, wie der Arzt sein Chemiebuch in die Schublade schiebt.

Das Fremde sind nicht etwa jene Verleumdungsspitzen, die von immer denselben Akteuren immer wieder lanciert werden. Stichwort Rassismus: wer offene Augen und Ohren hat, kann sich in kürzester Zeit durchfragen, im Netz recherchieren und sich vom Gegenteil überzeugen. Wenn man dann bestenfalls beim originalen Rudolf Steiner landet und sieht, dass es keinen größeren Menschenfreund und Menschenversteher auf der Welt gibt, bleibt noch als letzter Schritt die Frage: woher und wozu dann eigentlich die Verleumdungen? Aber das lassen wir hier beiseite.

Nein, das Fremde, Unfassbare ist, auch wenn man sich dieser Verunstaltungen durch Dritte erfolgreich entledigt hat: das Unsichtbare, das „Übersinnliche“ insgesamt, das in der Anthroposophie eine so große Rolle spielt.

Beim Reden oder Schreiben darüber ~ wie hier gerade ~ sollte man sich zunächst über passende Begriffe verständigen, damit man nicht aneinander vorbei redet. Man kann dieses Übersinnliche z.B. als „Esoterik“ bezeichnen, aber nur dann, wenn man präsent hat, dass in der Anthroposophie ~ nach Steiners ausdrücklichem Willen und von ihm so praktiziert ~ rein gar nichts geheim bleiben soll, der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben soll. Oder man umfasst es mit „Spiritualität“, sollte dann aber beachten, dass es in der Anthroposophie nicht um eine private religiöse Lebenshaltung geht, sondern, wie Wolfgang Müller es umschrieb, um Weltdurchleuchtung. Ob sich dies nun „Wissenschaft“ nennen „darf“ oder nicht, auch darüber kann man reden ~ und endlos aneinander vorbeireden ~, aber auch das ist nicht unser Thema.

Kann also, so ist die Frage, dieses „Übersinnliche“ nicht einfach weggelassen werden, wenn es um Praxis geht, also z.B. um Erziehung, Bildung, Unterricht?

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Die Antwort lautet: Ja. In der Praxis ja! Es lässt sich schon selber weg. Steiner wurde 1915 gefragt, was die Anthroposophie zur sozialen Arbeit beitragen könnte. Seine Antwort enthält folgenden Hinweis:

„Ge­rade dies, glaube ich, ist das Unterscheidende der «anthro­posophischen Weltanschauung», wie ich sie meine, von an­dern, dass sie zwar ein Gedankengebäude ist, aber ein sol­ches, das durch seine Art sofort den Gedanken überwindet, wenn es gilt, sich dem Leben gegenüberzustellen. Der le­bendige Gedanke ist nicht wie der tote; jener individuali­siert sich in der Empfindung, im Erlebnis, während der tote Gedanke sich dem Erlebnis gegenüber aufdringlich verhält.“

Vor Ort sorgt also die Anthroposophie mit ihren „lebendigen Gedanken“ dafür, dass in Sekundenschnelle das „Gedankengebäude“ zusammenstürzt und Platz macht für das Handeln und Erleben. Oder besser gesagt: Es wird ohnehin keiner auf die Idee kommen, nennenswerte Teile des riesigen Gedankengebäudes mit sich herumzutragen. Die lebendigen Gedanken werden weit vorher aufmerksam verstehend aufgenommen, im zweiten Schritt „meditierend verdaut“, und erst als drittes (Nächte mit ihrem fruchtbaren Schlaf liegen dazwischen) können sie dann im Glücksfall dem Pädagogen in Sekundenschnelle die richtige „Intuition“ eingeben, bei der im Kopf nichts mehr vom ursprünglichen Gedanken präsent sein muss. So beschreibt Steiner das Theorie-Praxis-Verhältnis und versteht Pädagogik deswegen nicht als Erziehungswissenschaft, sondern als Erziehungskunst.1

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Das Weglassen von schwierigen oder befremdlichen anthroposophischen Gedanken ist also nicht das Problem. Diese Gedanken eignen sich ohnehin nicht dazu, sie dem andern überzustülpen. Man kann sie mitdenken und zu verstehen versuchen, oder man kann es lassen und als guter Mitmensch weiterleben. Das funktioniert in langjährigen Ehen, wo einer „Anthroposoph ist“ und der andere nicht ~ warum sollte es nicht zwischen LehrerInnen und Eltern funktionieren, zwischen Waldorf-DozentIn und Auszubildendem, zwischen Schule und Schulaufsicht. Dennoch wird von den oben angedeuteten Akteuren stets das längst sinnfrei gewordene Vorurteil weitertransportiert, aus Esoterik, Spiritualität, Übersinnlichem folge Bevormundung und „Sektiererei“, und man ist sich sogar für die blödsinnige Unterstellung nicht zu schade, als würden „anthroposophische Inhalte in den Unterricht einfließen“. Schwurbler, die an abstruse Dinge glauben, dürfen doch nicht unsere Kinder unterrichten und dafür noch staatliche Zuschüsse bekommen (als würden die freien Schulen nicht im Gegenteil die öffentlichen Haushalte entlasten) ~ damit lassen sich jahrein jahraus manche dankbaren Medien füttern.

Auf Waldorf-Seite aber gibt es diejenigen, die sich als Vermittler sehen und den Schaden abwehren wollen. Eine Möglichkeit dazu wäre deutliche sachliche Verteidigung. Die andere, illusorische, ist: wenn wir anthroposophische Inhalte nicht nur weglassen, sondern die unangenehmsten ganz wegschneiden, haben wir es einfacher, weil es weniger Angriffsfläche gibt. Damit sind wir bei Prokrustes, dem Wegschneider. Ihn gibt es leider auch im Waldorf-Bereich.2


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Waldorfpädagogik und Anthroposophie sind ein „uneingeladener Gast in unserer Kultur“. Sie bringen Anregungen in die Gesellschaft, ohne dass sie von zentraler Stelle aus, z.B. von der Erziehungswissenschaft, darum gebeten wurden. Wir haben es neulich dem bereits erwähnten Wolfgang Müller gedankt, dass er dieses von Rudolf Steiner gebrauchte Bild ins Rampenlicht stellt. Akzeptanz und Wertschätzung von Anthroposophie und Waldorfpädagogik werden, so Steiners Zuversicht, schon zunehmen, wenn man die vom Gast mitgebrachten Schätze empfinden und schätzen lernt.

Das Gegenteil von Gastfreundschaft ist die rabiate Fremdenfeindlichkeit. In der griechischen Sagenwelt tritt sie in der Gestalt des Riesen Prokrustes auf. Dieses Bild ist sehr sinnig. Prokrustes hat, wenn Reisende bei ihm anklopften, sie nicht einfach verjagt oder totgeschlagen. Er bot ihnen sogar ein Bett an. War der Gast allerdings zu groß für das Bett, so hackte er ihm die überhängenden Gliedmaßen kurzerhand ab.3 Er machte sich den Gast passend.

Vermutlich hatte er Angst vor dem Fremden? Jedenfalls verfuhr er, so könnte man sarkastisch sagen, ebenfalls nach dem Motto „Prüfet alles, und das Gute behaltet!“ Gut ist nur, was ins Bett passt. Wir sehen also, dass diese Methode absolut unmöglich wird, wenn wir einem Menschen begegnen wollen. An einem lebendigen Wesen gibt es nichts wegzuschneiden. Wollen wir eine Individualität innerlich willkommen heißen, wollen wir sie verstehen, dann legen wir uns selbst Steine in den Weg, wenn wir fremdelnd etwas ausblenden, was dem Andern wichtig ist.

Zweifellos gilt das auch z.B. für andere Kulturen, die wir kennenlernen wollen, und zweifellos gilt es für die Anthroposophie, die ebenfalls insofern eine Individualität ist. Im Geistigen gelten andere Gesetze als im Materiellen, sagt Steiner im Anschluss an den großen Goethe: Im Materiellen bestimmt das Allgemeine das Besondere (die allgemeingültigen Naturgesetze sind Grundlage dafür, dass mein Auto funktioniert), im Geistigen aber ist es umgekehrt: dort müssen alle pädagogischen Regeln letztlich ihren Sinn und ihre Grenze darin finden, dass mein unverwechselbares Kind hier und jetzt dieser unverwechselbaren LehrerIn begegnet. Mein Auto kann ich zur Werkstatt bringen, ohne mich für den Mechaniker als Menschen zu interessieren. Für das Kinder-Eltern-Lehrer-Verhältnis erwarten wir uns mehr. Nicht, dass die LehrerIn den Eltern ihr Privatleben offenbaren solle. Aber wenn sie den Eltern ihre Kind- und Pädagogik-bezogenen Gedanken nicht mehr äußern mag, weil sie ungehörig sind und nicht ins Prokrustes-Bett passen, dann stimmt etwas nicht, und es geht Wertvolles in der Beziehung verloren. Ein „freies Geistesleben“ lebt aus authentischen Begegnungen von ganzen Menschen.

Ganzheiten sollte man nicht beschneiden. Es gibt keinen Grund und Anhaltspunkt, dass Steiners unwahrscheinlich reichhaltiges Weltgemälde namens „Anthroposophie“ nicht in Gänze als Grundlage der Waldorfpädagogik dienen könne, das heißt: dass nicht vielfach von ganz anderen Ecken des Werkes her bereicherndes Licht auf diese Pädagogik fallen könnte ~ für die pädagogisch Tätigen zur Vertiefung ihrer Arbeit, und gern auch für die Eltern und für die Öffentlichkeit.

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Letztlich bleiben die Beschneidungsversuche, wie die in Fußnote 2 genannten Beispiele zeigen, halbherzig und diffus, weil sie nicht durchführbar sind. Vielleicht möchte man z.B. die „Reinkarnation“, die ja nun auch im öffentlichen Bewusstsein unzweifelhaft zur Anthroposophie gehört, aus der Waldorfpädagogik hinauswerfen, und kann argumentieren, bei Steiners Begründung der Waldorfschule sei zwar intensiv von vorgeburtlicher und nachtodlicher Realität, aber nicht von Wiederverkörperung die Rede gewesen. Doch wer sich hineinliest und -denkt, erkennt die Willkürlichkeit solcher Beschneidung, die das Leben des Ganzen nicht respektiert. Wir erkennen die Grobheit der Prokrustes-Methode oft nicht erst an dem, was weggeschnitten werden soll, sondern schon in Ausgangspunkt und Motivation:

„Steiner hat betont, dass in die Waldorfpädagogik keine anthroposophischen Inhalte einfließen dürfen, also keine Engellehre, keine spirituelle Kosmologie, keine Christologie und auch keine substanzielle Reinkarnations- und Karmabetrachtung“, sagt Jost Schieren im Beitrag von 10/2025 ~ der sich immerhin in Grundsätzlichkeit mit „Quo vadis Waldorf“ befassen will. Schieren nennt dazu keine Quelle und lässt ohne Bedenken im Unklaren, ob mit „einfließen in die Waldorfpädagogik“ die Reflexion der Erwachsenen oder die Thematisierung im Unterricht gemeint sein soll. Mit letzterem hätte er ja recht, denn sicherlich hätte Steiner jene Themen nicht für den Lehrplan empfohlen.

Genau diese Verwischung aber ist tragisch, indem der Öffentlichkeit die Chance genommen wird, bei solcher Gelegenheit eins der wesentlichsten „Gastgeschenke“ der Waldorfpädagogik wahrzunehmen: die ausgearbeitete Grundlage dafür, dass man zu Kindern kindgemäß spricht, sie nicht als kleine Erwachsene behandelt, ja in ihrer Gegenwart anders denkt und empfindet, geradezu ein anderer wird. Im Schulunterricht wie auch zu Hause! Der dramatische kulturelle Verlust, den Neil Postman 1983 in seinem Buch „Das Verschwinden der Kindheit“ thematisiert, hat das erste Jahrhundert ignorierter Waldorfpädagogik und Anthroposophie begleitet. Dabei kann genau sie den dringend notwendigen haltbaren inhaltlichen Beitrag zum Thema „Kindheit“ leisten, also dazu, dass Kinder Kinder sein dürfen ~ und zwar nicht nur mit Märchen und Wasserfarbenmalen nach Rezeptbuch, sondern im durchgreifenden Verständnis von Erwachsenen mittels ihrer Fundierung in der Anthroposophie.4 Man versäumt die Gelegenheit, hier den Anschluss an die Waldorfpädagogik zu nutzen, weil man aus Bequemlichkeit die Verwischung von Erwachsenenwelt und Kindwelt mitvollzieht, wie sie draußen zunehmend üblich ist. Schon die herkömmliche Selbstverständlichkeit, dass Lehrplan und „theoretischer Hintergrund“ zwei komplett verschiedene Sachen sind, wird zugekleistert, als gäbe es sie nicht. Das ist ärgerlich, weil man so diese Unverschämtheiten der Waldorf-Basher nie los wird. Viel tragischer aber ist, wenn durch diese Prokrustes-Grobheit und ihren Begleitlärm das Geschenk des neuen Kindheits-Begriffes unserer Kultur vorenthalten bleibt. Wo Kindheit zunehmend als reines Nochnichtkönnen und Nochnichtverstehen auf kognitiver Skala empfunden wird, ist sie maximal ein Schutzraum, und auch dies nur, wenn Tiefenpsychologie ihr Wort dazu beiträgt. Aber ohne eine konkrete geistige Weltauffassung, die z.B. mit der Wesensglieder-Lehre 5 weit über das „Anerkannte“ des Prokrustes-Bettes hinaus geht, kommt Kindheit nicht als der Himmelsraum in den Blick, in welchem die Kinder, auf anderer Ebene, alles um sie herum Vorgehende aufnehmen können und müssen ~ und wo es an uns Erwachsenen liegt, dieses Verstehen der Kinder (welches uns längst verschlossen ist) zu ihrem Wohle zu nutzen. Davon ist in Steiners Pädagogik viel die Rede. Man wusste oder ahnte es einmal, dass „das Kind ein göttlich Wesen“ ist (Hölderlin) ~ von allein kommt das nicht „zurück“.

Von außen, aus der Perspektive unserer Erwachsenen-Rationalität, ist Kindheit ein Schutzraum. Von innen ist sie ein grenzenloser Himmelsraum, den fast nur besondere Erwachsene noch schildern können 6, weil er weit über die Prokrustes-Rationalität hinausragt. Will man diesen faktischen Zauber der Kindheit achselzuckend der Poetik und dem Privaten überlassen, wie andere „unerklärliche Grenzbereiche“ des Lebens? Oder will man, weil es in diesem Fall um andere, nämlich um die schutzbedürftigen Kinder geht, gewissenhaft nach einer rationalen Wissenschaft von Kindheit suchen? Dann müssen es wohl „himmlische“ Begriffe sein, die uns einen Zugang verschaffen können. Und wir wären schlecht beraten, eine solche Wissenschaft zu verschmähen.

Wir sollten das Bild nicht zu kulturpessimistisch malen: Vielleicht sind neben dem „Verschwinden der Kindheit“ in den letzten Jahrzehnten auch gegenteilige, gute Tendenzen zu sehen. Dann aber haben wir dieses neue Ahnen eines „Himmelsraumes“ wohl eher einer allgemeinen Öffnung unserer Gesellschaft in Richtung „Esoterik, Spiritualität …“ zu verdanken, wie man sie in den Buchhandlungen sieht ~ und gewiss nicht der organisierten Prokrustes-Bewegung, die es auch gibt und die sich zu unrecht „Skeptiker“ nennt. Wir wollen akademischer Wissenschaft auch gar nicht die Kompetenz absprechen, „Esoterik, Spiritualität …“ beobachten zu können, ebensowenig den Medien die Aufgabe, auf Sektiererei hinzuweisen ~ aber auf Prokrustes-Niveau geht das erstere nicht und macht das letztere keinen Sinn.

In der Praxis kann jeder machen, was erlaubt ist. Gewiss ist es denkbar, dass Initiativen eine Schule mit alternativer Nischenpädagogik in Anlehnung an die Waldorfpädagogik, aber ohne Anthroposophie betreiben wollen (Märchen und Wasserfarbenmalen), vielleicht auch in öffentlicher Trägerschaft. Es ist aber leider auch denkbar, dass Funktionäre der Waldorf-Hochschulen oder des Verbandes in diese Richtung schwenken. Dann sollte dies klar kommuniziert werden, und dann sollte das Markenzeichen „Waldorf“ freigegeben oder übergeben werden. Allerdings: der obige Hinweis auf „Kindheit“ zeigt ein weiteres Mal an, wie fragwürdig die Unterschutzstellung des Markenzeichens ist. Verrückt aber wahr: eine weitere Steigerung wäre nur, sich „Menschsein“ patentieren zu lassen. Der Besitz eines Markenzeichens wiegt die Eigner in der Illusion, etwas zu haben. „Hat“ die Waldorfbewegung schon ihre Pädagogik? Und „gehört“ sie überhaupt ihr? Diese Hochschulinstanzen wären prädestiniert und beauftragt, Waldorf (via Anthroposophie, oder umgekehrt) als Allgemeinbesitz herauszuarbeiten. Wenn sie den Spagat, um den sie nicht zu beneiden sind, gar nicht ernsthaft versuchen, sondern die Situation mit Modernisierungsgetue und Prokrustes-Unart vernebeln, versündigen sie sich nicht primär an der Bewegung, die das mehr oder weniger noch durchschauen und korrigieren wird (es zum Teil aber auch beklatscht), sondern an der Öffentlichkeit, für die das Geschenk gedacht ist. Eine kanonisierte und akkreditierte Nischenpädagogik und Schule ist nicht die von Steiner intendierte, deren Gründung er als einen „Festesakt der Weltenordnung“ bezeichnet hat.

Unser Plädoyer also: lasst die Waldorfpädagogik leben und verzichtet aufs Abschneiden und Abhacken. Für unser Schulkonzept halten wir fest (ohne dass wir dafür eine Plakette brauchen): wir verzichten auf Prokrustes-Methoden und leben Willkommenskultur, auch in Bezug auf „Anschauungen“ von „Fremden“.


*

Funktioniert die skizzierte Art, dem Fremden zu begegnen, in der Realität? Aus Jahrzehnten des Mitlebens in einem sich selbst verwaltenden Waldorf-Kollegium berichte ich: Es sind Kollegen im Kreis, denen die „über das Bett hinausragenden“ anthroposophischen Inhalte sehr wichtig sind für die gemeinsame Arbeit. Andern, z.B. neu Hinzugekommenen, sind dieselben Dinge bis jetzt fremd. Ist das ein „Problem“? Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man etwas abhacken müsste. 7 Gerne aber können wir es, z.B. in der wöchentlichen Konferenzarbeit, als „Problem“ im altehrwürdigen philosophischen Sinne nehmen: als etwas, was es gedanklich zu fokussieren und zu bearbeiten gilt. Und bearbeiten heißt dann nicht unbedingt, dass es ultimativ geklärt und aus dem Weg geschafft werden muss! Vielleicht reicht verbales Diskutieren nicht, vielleicht müssen Tage und Nächte vergehen und Begegnungen stattfinden. Ein Problem in diesem gehaltvollen Sinn ist etwas durchaus Fruchtbares. In der alltäglichen Schulpraxis spricht man derweil eine gemeinsame Sprache und lebt eine gemeinsame Alltagswelt. Und wenn man innere Willkommenskultur lebt, kann Fremdes sich „nach und nach“ als freundlich erweisen.

Und im Eltern-Lehrer-Verhältnis? Dort kommt das Gespräch ~ so die Erfahrung ~ kaum jemals auf Themen wie etwa „Reinkarnation“, aus dem einfachen Grunde, weil die Gespräche um das konkrete Kind kreisen und um das, was es hier und jetzt zeigt. Keine Rede davon (wie von den „Akteuren“ gern suggeriert wird), dass die Lehrer das Kind durch eine Brille anschauen, die aus dem „Gedankengebäude“ stammt.

Ähnliches ist aus den überwiegend positiven Erfahrungen mit der Schulaufsicht zu erzählen. Es gibt ja Probe-Unterrichtsstunden vor Beamten der staatlichen Schulbehörden, und in den anschließenden Besprechungen soll die zu prüfende Lehrkraft dann ihr Handeln begründen. Verzichtet die KandidatIn darauf, sich zu verstellen und anthroposophisch-waldorfpädagogische Gedanken krampfhaft zu vermeiden, dann hört man oft ungefähr dies aus „staatlichem“ Mund: „Ich kann zwar Ihre Gedankengänge nicht wirklich nachvollziehen, aber sie wirken authentisch und in sich gegründet, und Ihre Arbeit mit den Kindern ist gut.“ Das Prinzip lautet ja: anders, aber nicht schlechter.

Fazit: Weglassen kann man viel. Aber wegschneiden lassen sollten wir uns wahrhaftig nichts, denn damit würde Wertvollstes verloren gehen. Und in diesem Sinne sollten wir auch mehr als bisher etwaigen Verbandsvertretern, auch bezüglich der Lehrerausbildung, auf die Finger schauen, damit sie nicht aus Bequemlichkeit Prokrustes-Methoden anwenden.

Martin Cuno


1 Rund dargestellt wird dies im Vortrag vom 21. September 1920, in GA 302a.

2 Jost Schieren als Pädagogik-Professor an einer staatlich anerkannten, aber waldorf-orientierten Hochschule verfährt in verschiedenen Beiträgen nach diesem Rezept. Das Ziel scheint eine allgemeine pauschale Distanzierung von allzu Schwurbeligem zu sein, es wird aber nicht konkret. Siehe Waldorf ohne Steiner? (November 2023), Waldorfpädagogik ist Freiheitspädagogik (Oktober 2025). Im letztgenannten Aufsatz gibt es eine Gliederung von Steiners Biographie in 4 Wirkungsphasen, gegen die an sich nichts einzuwenden ist. Sie dient aber dazu, willkürlich und diffus eine Distanz der Waldorfpädagogik von der zweiten, der „theosophischen“ Phase zu suggerieren. Schlüssig ist das nicht. Siehe zu diesem Thema auch das Editorial von Andreas Neider zu erWACHSEN&WERDEN Nr.02/2025, mit Bezugnahme auf einen weiteren Beitrag von Jost Schieren.

3 Also die Gliedmaßen und nicht etwa den Kopf. Insofern passt das Prokrustes-Bild tatsächlich recht gut zu unserm Thema. Man würde ja denken: lasst von der Waldorfpädagogik den theoretischen Überbau weg, also den Kopf. Aber der werdende und lebendige Geist sitzt, salopp gesagt, laut den Vorträgen zur Begründung der Waldorfschule ja eher in den Gliedmaßen als im Kopf (wo das Schattenbild ist). In den Gliedmaßen, so könnte man interpretieren, sitzt für Prokrustes das Fremde, das ungeahnte Entwicklungen fordert, denen er sich nicht gewachsen fühlt.
Das abgebildete Detail einer Schale im British Museum zeigt Prokrustes im letzten Lebensmoment auf seinem eigenen Bett: als Theseus, der Held und Vorkämpfer des Menschlichen, ihn auf dieselbe Weise zur Strecke bringt.

4 Am konzentriertesten wird dies „Kindseindürfen“ in Steiners Aufsatz von 1907 „Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft“ durchgeführt. Jahrzehntelang haben Waldorf-ErzieherInnen diesen Text mit Kindergarteneltern gelesen. Ausgerechnet diesen Text möchte nun Schieren anscheinend als weniger relevant hinstellen, weil er der „theosophischen Phase“ angehöre. Das ist irreführend für Unkundige und somit unverantwortlich. Denn zum einen problematisiert Steiner im Text von 1907 am Anfang und am Schluss selbst unverkennbar das Dreiecksverhältnis zwischen „Geisteswissenschaft“, „Bildung der heutigen Zeit“ und Tendenzen von theosophischem Sektierertum. Hier zu „kontextualisieren“, ohne die Reflexionen des Biographie-Eigners selbst zur Kenntnis zu nehmen, geht nicht an. Außerdem strotzt der kleine Text geradezu von Ausblicken auf eine mögliche spätere Konkretisierung der (schon hier so genannten) Erziehungskunst auf der Grundlage von „Geisteswissenschaft“. Drittens weist Steiner in späterer Waldorf-Zeit durchaus mehrfach auf sein „Büchelchen“ als pädagogische Grundlage hin. Schieren thematisiert ja selbst, dass Steiner in verschiedenen Lebensphasen verschiedenes Publikum hatte. Daraus einen Prokrustes-Schnitt zu machen, ist unwissenschaftlich.

5 Siehe vorige Fußnote.

6 Unser Schulgründer Helmut Theisohn drückte das Anliegen der Schule bei feierlicher Gelegenheit dadurch aus, dass er die Anfangspassagen aus Lusseyrans Autobiografie „Das wiedergefundene Licht“ vorlas.

7 An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass Prokrustes die Gliedmaßen des Gastes, wenn sie zu kurz für das Bett waren, auch in die Länge gezogen hat. Das wäre übertragen: einem andern gewaltsam Gedanken aufoktroyieren wollen, damit er den eigenen Erwartungen entspricht.

3133 W / 19870 Z


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